1. Mai 2010 Berlin - Eine Rechercheauswertung
Etwas weniger als 1.000 Neonazis waren am 1. Mai in Berlin unterwegs und nahmen an einem der beiden Aufmarschversuche teil. Während bei dem kurzen Gerenne auf dem Kurfürstendamm fast die gesamte Berliner Neonaziszene anwesend war, musste der Anmelder des offiziellen Neonaziaufmarschs an der Bornholmer Straße, Sebastian Schmidtke, vor allem mit angereisten Neonazis vorlieb nehmen. Dass die Berliner Neonaziszene die fast 300 Verhaftungen und mehrere Verletzte am Kudamm und die, durch antifaschistische Blockaden auf einen Bruchteil der Wegstrecke verkürzte, Route an der Bornholmer Straße als Erfolg wertet, zeigt, wie niedrig die Erwartungshaltung nach dem Desaster von Dresden war.
Die Anreise
Gegen 11:00 sammelten sich an den S-Bahnhöfen Friedrichsfelde Ost (Lichtenberg), Schöneweide (Treptow-Köpenick) und Südkreuz etwa 300 Neonazis. Darunter war fast die gesamte Berliner Neonaziszene, ergänzt durch Anhänger aus Leipzig, Königs Wusterhausen, Teltow-Fläming, Oder-Havel und Florenz. Angeführt wurde die Lichtenberger Gruppe von Björn Wild, der neben den üblichen Verdächtigen - den Lichtenbergern Sebastian Zehlecke, Daniel Meinel, Thomas Göbel, David Gudra, Christian Bentz, Stephan Alex, Robert Bindel und Bengt Bolle sowie den Hellersdorfern um Karsten Maschke, Matthias Hirsch, Kai Milde und Marcel Rockel - die Anreise der Kameraden östlich von Berlin koordinierte.
Die Gruppe, die um 11:00 mehrere dutzend Neonazis umfasste, fuhr anschließend mit der Straßenbahn nach Schöneweide, um sich mit den dortigen „Kameraden“ zusammenzuschließen. Hier übernahm Marcel Königsberger die Rolle des Einheizers, während Wild mit einer kleinen Planungsgruppe die Weiterreise vorbereitete. Nach einem Zwischenstopp am Südkreuz umfasste die Gruppe ca 300 Neonazis. Dabei waren mehrere Vertreter der Berliner NPD, unter anderem Jörg Hähnel, Matthias Wichmann, Sebastian Thom, Andrew Stelter und Michaela Zanker. Anwesend waren ebenso Anhänger der verbotenen Kameradschaft "Frontbann 24" (Gesine Hennrich, Uwe Dreisch, Ronny Schrader und Marco Oemus), Vertreter von Brandenburger NPD-Gruppen (Michael Thalheim und Mike Turau aus Königs Wusterhausen sowie Manuela Kokott aus dem Landkreis Oder-Spree), die Berliner Neonazis Patrick Weiss, Mirko Tambach, Erik Wagner und Dennis Kittler sowie Angehörige der "Freien Nationalisten Mitte".
Die Blamage am Kurfürstendamm...
Scheinbar spontan wurde die S-Bahn am Bahnhof Halensee gestoppt und es wurde versucht, eine Spontandemonstration durchzuziehen. Der Polizei gelang es recht schnell, zusätzliche Einheiten heranzuordnern. Die Spontandemo endete so nach einem kurzen Sprint im Polizeigewahrsam. 286 der panisch flüchtenden Neonazis wurden eingesammelt und in die GESA gebracht. Bei den verhafteten wurden mehrere Messer, Schlagstöcke und Pfeffersprays gefunden. Da die Neonazis in der Nähe des Adenauer Platzes gestoppt wurden, erreichten sie nicht einmal ansatzweise belebte Regionen des Kurfürstendamms. Das hilflose Gerenne wird inzwischen von den Neonazis als "Marsch der 350" verklärt, als hätten sie die Feldherrenhalle erreichen wollen. Nichtmal die Gedächtniskirche sollte es an diesem Tag werden.
...und an der Bornholmer Straße
Parallel zu dem Geschehnissen am Kurfürstendamm füllte sich langsam der Freiluftkäfig, der für die Neonazis nahe der Böse-Brücke (Prenzlauer Berg) bereitstand. In den Vorkontrollenzelten der Polizei stapelten sich mit den anrückenden Neonazis auch die beschlagnahmten Waffen. Am Ende waren es zwei, mit Latten, Pfeffersprays, Schlagringen und Hämmern gefüllte Müllsäcke. Die Kameradschaft Aachener Land musste ihre Knüppelfahnen konfiszieren lassen, weil sie zu sehr Schlagwerkzeuge und zu wenig Fahne waren.
Sebastian Schmidtke, dessen Blick sich im Laufe des Tages immer weiter verfinsterte, wurde beim Aufbau lediglich von vereinzelten Berliner Neonazis unterstützt. Der Berliner NPD-Verband wurde durch Jan Sturm und Sebastian Döhring vertreten. Die beiden stellten die Besetzung des Lautsprecherwagens. Döhring trat zudem unter dem Künstlernamen "Fylgien" als Liedermacher auf. Lediglich der Treptower Neonazis Thomas Markgraf und der Pankower NPD-Verband war mit ca 15 Neonazis anwesend, so dass aus dieser Struktur wichtige Demoaufgaben übernommen werden konnten.
Die Pankower Andy Fischer und Patrick Fehre sowie Markgraf unterstützten Schmidtke in der Demoleitung, Thomas Zeise war als Anti-Antifa-Fotograf unterwegs und Michael Weiss, Rick Hoeckberg und Vivien Schultz durften das Fronttransparent tragen. Daniel Steinbrecher, Sandor Makai, Robert Scheffler und weitere Pankower Neonazis füllten die vorderen Reihen auf und trugen das Hochtransparent. Auch der Nazianwalt Wolfrahm Nahrath kam mit der Pankower Gruppe.
Ebenso im vorderen Block lief der ehemalige "Landser"-Sänger Michael "Lunikoff" Regener, zusammen mit weiteren Mitgliedern der Nazi-Rocker-Truppe "Vandalen" (u.a. Matthias Gohlke) sowie Markus Bischoff. Weitere aktive Berliner waren unter den 600 angereisten Neonazis nicht zu erblicken.
Wer waren die 600 Neonazis?
Die Anreise für den Aufmarsch wurde vor allem über den nördlichen Stadtrand organisiert. So wurden mehrere Busse in Oranienburg abgeparkt, um von dort aus mit der Bahn zum Sammelpunkt zu fahren.
Die bundesweite Naziprominenz wurde am 1.Mai in Berlin durch die Redner Christian Worch und Thomas Wulff sowie durch Axel Reitz, Inge Nottelman, Tobias Thiessen, Lars Jacobs, Torben Klebe, Marcel Guse, Thomas Gerlach und den Berliner NPD-Vorsitzenden Uwe Meenen vertreten. Meenen unterhielt sich angeregt mit dem Nazisänger „Lunikoff“ Regener. Udo Voigt hatte es vorgezogen, nach Erfurt zu reisen. Nachdem der übliche Berliner Schutzdienst (u.a. Stelter und Bolle) in der GESA saßen, mussten Auswärtige die Schutzstruktur übernehmen. Die Potsdamer Freien Kräfte um Benjamin Oestereich beschützten während des Aufmarschs den Lautsprecherwagen. Dieser wurde von der Firma „ES Autovermietung“ (Mühlenstraße 66, Pankow) gemietet. Ein weiteres Demoauto stammte von der Firma „FunRent“. Der Hildesheimer Dieter Riefling, Bernd Stehmann aus Bielefeld und Franz Poppendieck aus Premnitz fielen dabei durch Schubsereien mit Pressefotografen auf. Scheinbar wurde die Ordnerstruktur von alten westdeutschen Kameradschaftsstrukturen übernommen. Auch aufgrund der fehlenden Berliner AN-Strukturen vermittelte der Aufzug den Eindruck eines 1990er-Jahre-Aufmarsches.
Die weiteren anwesenden Neonazis kamen aus Potsdam, Hildesheim, Oranienburg, Erkner, Magdeburg, Celle, Fankfurt/Oder, Wernigerode, Wriezen, Bremen, Bad Freienwalde, Spremberg, Hennigsdorf, Schönebeck, Eberswalde, Müncheberg, Altenburg, Aachen und den Niederlanden.
Das Ende
Nach drei Stunden des Wartens versuchten die Neonazis zwei Ausbruchversuche aus dem Käfig, auch in der Absicht, anwesende Pressefotografen anzugreifen. Diese Versuche wurden von der Polizei mit Pfeffersprayeinsatz unterbunden.
Der Aufmarsch, der sich kurz nach 15 Uhr in Bewegung setzte, musste schon nach wenigen Metern aufgrund einer Blockade auf der Bornholmer Straße wieder gestoppt werden. Während der Demonstration wurde mehrere Male gegen die polizeilichen Auflagen verstoßen, ohne dass die Polizei einschritt. So wurde sowohl vom Lautsprecherwagen, als auch von Teilnehmern „Straße frei der deutschen Jugend“ angestimmt. An der Ecke Schönhauser Allee, wenige hundert Meter vom Startpunkt entfernt, war klar, dass es nicht weitergehen würde. Sowohl die ursprüngliche Route über die Wichertstraße, als auch die Ausweichstrecken - Wisbyer Straße sowie Berliner Straße und die Weddinger Seite der Bornholmer Straße - waren von mehreren tausend Menschen blockiert. Zudem waren die Dächer an der Route voll mit Leuten, so dass die Polizei von einer hohen Gefahrenprognose ausging.
Schmidtke zog die einzig vernünftige Konsequenz und ließ den Aufmarsch wieder zurück zum Startplatz laufen. Um 18:00 Uhr war das Schauspiel vorbei. Nach Beendigung der Demonstration wurde von einigen Teilnehmern „Ein junges Volk steht auf“ angestimmt, ohne, dass die Polizei es für nötig hielt, zu intervenieren.
Ein Teil der Demonstranten traf sich einige Zeit später zu einem Spontanaufmarsch am S-Bhf. Schöneweide. Sie konnten jedoch von der Polizei überredet werden, doch lieber den Abend in der Nazikneipe "Zum Henker" zu verbringen. Eine weitere Spontandemonstration in Potsdam wurde von der Polizei untersagt.
Die Auswertung
Neben der parteipolitischen Diskussion, ob sich eine Sitzblockade gegen Neonazis im Rahmen der FDGO befände (innerhalb der SPD befürwortet eine Mehrheit inzwischen diese Aktionsform, während FDP-Vertreter Blockierer_innen mit Nazis gleichsetzen), wurde vor allem diskutiert, ob der Aufmarsch am Kurfürstendamm spontan oder geplant war. Einiges, vor allem das gemeinsame Auftreten (fast) der gesamten Berliner Neonaziszene spricht für letzteres. Besonders die Anreise aus Lichtenberg wäre deutlich einfacher zu haben gewesen, als über den Süden Berlins.
Wie es letztendlich auch war, und egal, was die Neonazis als Erfolg verkaufen: Es wurden eine Menge der eigenen Leute gründlich verarscht. Für den Fall, dass die Kurfürstendamm-Demo eine spontane Entscheidung war, hat die versammelte Berliner Neonazisszene ihren Anmelder Sebastian Schmidtke ins offene Messer laufen lassen. Wenn die Demo geplant und auch mit Schmidtke abgesprochen war, dann hat dieser eine kleinere und schlechter organisierte Demonstration im alternativen Prenzlauer Berg in Kauf genommen und damit die anreisenden Auswertigen wissentlich gefährdet.
Ein Erfolg der antifaschistischen Kräfte Berlins war es allemal. Von einer fast halbjährlichen Nazimobilisierung, einer anderthalb-monatigen Aktionsphase mit etlichen Infoständen und laut Eigenaussage zehntausenden verklebten Aufklebern und Plakaten ist nichts geblieben, als 800 gelaufene Meter und 300 Neonazis im Knast. Die Veröffentlichungsstrategie der Berliner Neonazis, die es auf Publikationen und im Internet vermieden, den Startpunkt des Aufmarschs zu nennen, verunmöglichte es zudem unorganisierten Neonazis, an dem Aufmarsch teilzunehmen.
Die angekündigte Twitter-Offensive ist vielleicht symptomatisch für den ganzen Tag. Es wurden insgesamt neun Beiträge geschrieben, davon zwei Antifa-Angriffe, vier Polizeieinsätze und zwei Blockadenachrichten.
Zum Weiterlesen:
Antifa-Mobiseite
Fight Back 4 - Berliner Recherchezeitung
Erstveröffentlichung auf Indymedia am 8. Mai 2010
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