Nachbereitung AfD-Aufmarsch 2705

17. Juli 2018 | News Redaktion

Nach dem AfD-Großaufmarsch in Berlin fand am 12. Juni im Mehringhof eine öffentliche Nachbereitung statt. Einig war mensch sich, dass vieles am 27. Mai nicht so glatt lief, wie es von den vorbereitenden Gruppen erhofft wurde. Warum haben sich vergleichsweise wenig Menschen an Blockaden und anderen Störversuchen beteiligt? Warum ist es den zwei großen Blockadefingern mit je 1000 Menschen nicht gelungen auf die AfD-Route zu kommen? Warum konnte aus der Verbindung unterschiedlicher Aktionsformen keine Stärke - jenseits von Masse - entstehen? Rund 80 Personen beteiligten sich an fünf parallelen Diskussionsrunden zu unterschiedlichen Schwerpunkten. Anknüpfend an andere Strategie- und Taktikdiskussionen (z.B. Taktikkasiber zu Dresden) wollen wir die Ergebnisse hier darstellen, um uns auf ähnliche Events in nächster Zeit (z.B. der Rudolf-Hess-Gedenkmarsch am 18. August in Berlin) vorzubereiten.

Gesamtauswertung: Wie war der Tag?

Zwischen 3.000 und 5.000 AfD-Anhänger*innen waren am 27. Mai vom Berliner Hauptbahnhof nach langer Auftaktkundgebung eine schnelle und kurze Route über das Kapelle Ufer, in die Reinhardtstraße, weiter die Luisenstraße und dann direkt zur Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor marschiert. Dort war gegen 15 Uhr Schluss. Der Abfluss der AfDler*innen erfolgte unkoordiniert aber im Wesentlichen über den Bahnhof Friedrichstraße und Hauptbahnhof.

Etwa 25.000 und 70.000 Gegendemonstrant*innen stellten sich der AfD, bei vier zentralen Aktionen entgegen. Als erste starteten die „Glänzenden“ (Kulturschaffende) mit einer Demo vom Weinbergspark aus, die als einzige richtige Gegen-Demo mobilisiert wurde und deshalb wohl auch für den überwiegenden Teil der typischen Demogänger*innen das zentrale Angebot an dem Tag war. Die Glänzenden kamen sehr nah an die AfD-Route heran, konnten da aber nichts anrichten, was die AfD gestört hätte. Gleiches gilt übrigens für die sehr schön anzusehende Demo von Hausbooten auf der Spree - falls die Existenz von solchem Freizeitverhalten für manche AfDler*innen nicht schon Provokation genug war.

Parallel trafen sich am Vormittag an zwei öffentlich beworbenen Aktions-Treffpunkten (Kreuzberg und Wedding) jeweils rund 1000 Personen, die sich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Nähe des Regierungsviertels begaben. Beide Gruppen wurden recht früh von der Polizei mit massiver Gewalt und noch weit vor den relevanten Straßenzügen kaltgestellt. Die Überbleibsel versuchten immer wieder auf die Route zu gelangen oder beteiligten sich lädiert an der glänzenden Demo.

Auf der Reichstagswiese fand zudem die Kundgebung von „Aufstehen gegen Rassismus“ statt. Hier hätte ein guter Anlaufpunkt für Menschen sein können, die mehr wollten als dem abwechslungsreichen Programm zu lauschen. Dass dieser Ort kein Ausgangspunkt für weitere Blockadeversuche war, dürfte mit fehlender Dynamik erklärt werden.

Zu guter letzt muss der Rave „AfD-Wegbassen“ vom Hauptbahnhof über die Siegessäule zum Brandenburger Tors genannt werden. Rund 40 Musikwägen veranstalteten eine Parade, deren Außenwirkung mehr oder weniger politisch war und den Endkundgebungsort der AfD einnehmen sollte. Gute Idee - leider kam der Rave da zu spät an und war wenig ambitioniert mehr zu tun als es sich hinter den Zäunen bequem zu machen.

Die großen Veranstaltungen und die beiden Finger sorgten eigentlich für gute Voraussetzungen für ein dezentrales Konzept. In den Seitenstraße des Aufmarschs bewegten sich dann auch hunderte in Kleingruppen, ziemlich unkoordiniert, aber mit viel Elan. Um hier zu unterstützen gab es Aktionskarten, Infotelefon, Demoticker, Twitter und Infopunkte (eine Kundgebung von Welcome United, ein Infopunkt im Subversiv und einer im Tommy-Weisbecker-Haus). Die Infos, die über die Kanäle gingen wurden allerdings als wenig hilfreich beschrieben und die Infopunkte waren zu weit weg.

Vieles ging in der Öffentlichkeit völlig unter. Deshalb seien die kleinen Aktionen hier wenigstens erwähnt: Es gab brennende Mülltonnen nahe der Route, Bitumen und Pferdescheiße auf die AfD und ein Mutiger hat das Stromkabel bei der Abschlusskundgebung gezogen und damit Gauland entschärft. Mehrere Autos von AfD-Anhänger*innen wurden in Mitte erheblich beschädigt. Eine  Spontandemo nahe U-Bhf. Eberswalder Straße mit rund 100 Personen sorgte mit Graffiti und Straßensperrungen für kurze Unruhe bei der Polizei. Für mehr als ein mulmiges Gefühl dürften die Umzingelungen bei der Abreise der AfD-Anhänger*innen im Bhf. Friedrichstraße und Hauptbahnhof gesorgt haben. Hierzu hatte niemand aufgerufen und dennoch beteiligten sich mehrere tausend Gegendemonstrant*innen. Warum nicht Ähnliches auch bei der Anreise probiert wurde, ist ein Geheimnis der Dynamik solcher Tage. Nur aus Leipzig wurde bekannt, dass dort ein Bus an der Fahrt nach Berlin gehindert wurde.

Im direkten Zusammenhang ist noch die Woche vor dem Aufmarsch zu nennen. Hier wurde wichtige AfD-Infrastruktur überwiegend mit Farbe angegriffen. Außerdem fanden Hausbesuche bei rund 20 AfD-Kader*innen statt (Zusammenstellung von "Chaos statt AfD"). In der Nacht nach der Demo kam es noch zu einem Angriff auf den Ratskeller Charlottenburg, der einer der wichtigsten Räume (fortlaufend aktualisierte Karte bei antifa-berlin.Info) der Berliner AfD ist.

Trotz der vielen schönen Momente. Fakt ist: Die AfD zog ihr Programm im Wesentlichen durch. Die Route war zwar stark verkürzt - aber das war schon Tage vorher klar. Die Binnenwirkung dürfte, trotz der Hähme in der Presse, positiv gewesen sein.

Aber auch der Gegenprotest war erfolgreich. Wie sehr, kommt darauf an wie Erfolg definiert wird. Mobilisierungsstärke - extrem erfolgreich. Ob die Massen sich nun angesprochen fühlten durch die Protestform (Rave), die Akteure (Clubkommission) oder durch das Thema, die AfD zurückzudrängen, ist eine Frage, die nur zum Teil unbeantwortet bleibt. Denn nur eine Woche später, als sich die Neuauflage des AfD-Frauenmarsches aus Kreuzberg zum Kanzler*innenamt schlengelte, protestierten nur einige hundert Menschen gegen den Marsch. Sicher ist, aber dass die Reichweite von Akteuren wie der Clubcommission offensichtlich die der üblichen politischen Gruppen übersteigt. Das düfte am 27. Mai den Unterschied gemacht haben. Noch ein Kriterium: Vermittelte Inhalte. Am 27. Mai dominant war ein, oftmals sogar selbst ausschließender, Großstadtliberalismus, der gern ausblendet was nicht in einfachen Polarisierungen (Hass vs. Liebe, AfD vs. Gesellschaft) abzubilden ist. Ein unversöhnlicher Grundtenor der nationalistischen Normalität (von der kapitalisitischen, imperialen und patriachalen, ganz zu schweigen) gegenüber, war auf der Straße und in den Medien eher marginalisiert.

Randständig und marginalisiert dürften sich an und nach dem Tag auch die mindestens sechs Personen gefühlt haben, die von der Polizei ins Krankenhaus geprügelt wurden; die unbekannt bleibende Anzahl von verletzten Demonstrant*innen; die 25 Festgenommenen, die ihren Abend in der Gefangenensammelstelle verbrachten und wohl mit Verfahren überzogen werden; und letztlich auch diejenigen die die vollmundigen Worte der Blockadeankündigung ernstgenommen haben und erneut ziemlich gefrustet sind.

Auswertung bzgl. Vorbereitung: Bedingungen für dezentrale Konzepte

Drei Leitfragen sollten die Diskussion anregen: Was hat an dem Tag gefehlt? Wie hätten wir uns alle besser vorbereiten können? Was sind Erfolge und welche Bedingungen braucht es? Die Diskussion hat sich im Wesentlichen mit den Bedingungen für ein dezentrales Konzept beschäftigt und viele andere Themen auch angesprochen. Das größte Problem an dem Tag wurde darin gesehen, dass zwar viele Leute mobilisiert werden konnten, aber von denen wenig Initiative ausging. Diese spektrenübergreifende Konsumhaltung hatte schon im Vorfeld begonnen, wo die Zahl an spontanen und kreativen Aktionen sich auf eigene Transparente oder Schilder beschränkte. Die Folge war, dass trotz der geringen Zahl der Polizei (2.400 waren wohl im Einsatz), wenig Anstalten gemacht wurden die AfD zu blockieren oder gar nicht erst loslaufen zu lassen. Die wenigen Ausnahmen, die für Aufmerksamkeit gesorgt haben (Bitumen, Stecker-Ziehen), zeigen eigentlich dass es möglich ist, auch mit wenig Leuten, solche rechten Events empfindlich zu stören. Eine weitere Folge war die Überforderung der aufrufenden Gruppen und Bündnisse, die an ihre Kapazitätsgrenzen im Vorfeld und erst recht am Protesttag kamen und irgendwie priorisieren mussten.

Was sind nun die Ursachen für die geringe Eigeninitiative? Ohne die Meta-Debatten (Vereinzelung, Repression, Eventuierung von Politik) aufzumachen arbeitete mensch sich hier an den Dingen ab, die wir selbst in der Hand haben. Also beispielsweise: Wurde denn genügend probiert bestimmte Protest- oder Widerstandsformen im Vorfeld so sehr zu etablieren und zu propagieren, dass alle hätten wissen können, was denn der Plan ist und wie der auszuführen ist? Wo ist das Verständnis dafür geblieben, dass auch die Polizei endliche Ressourcen hat, dass Straßen nicht unendlich breit sind und dass Bahnhöfe zum Nadelöhr werden können? Sind die nötigen Skills oder bestimmtes Wissen in der Breite vorhanden um diese Schwachstellen zu nutzen? War nicht auch die Örtlichkeit für viele ein Hinderniss, wo sich niemand so richtig auskennt? Wurde denn am Tag selbst genügend dafür getan um Eigeninitiative durch gezielte Informationen u.ä. zu ermuntern?

Die Lösungsvorschläge klingen erstmal banal, doch die Diskussionen im Auswertungstreffen zeigten, dass es notwendig ist, immer wieder über Basics vor Aktionen zu sprechen, Neues auszuprobieren und verschüttetes (Bewegungs-)Wissen wieder aufleben zu lassen. Dazu gehören die Praktiken zur Bildung von Bezugsgruppen, die sich kollektiv auf Aktionen vorbereiten und bei solchen Großevents mit eigenen Beiträgen punkten können. Auch die lang eingeübten Formen basisdemokratischer Strategiediskussion und Verbreiterung einer gemeinsamen Prognose für den Tag beispielsweise in Veranstaltungen und Vollversammlungen hatten diesmal gefehlt. Die wenigen Aktionstrainings, die auch dieses mal gut besucht waren, können nur an der Oberfläche kratzen, aber zumindest vermitteln, wie die hoffentlich dann bestehenden Bezugsgruppen im Eifer der Aktion noch miteinander kommunizieren, Entscheidungen treffen können und aufeinander achten.

Es fehlte an Kommunikation - nicht nur in den Blockade-Fingern, sondern auch zwischen den Bezugsgruppen. Vielleicht alles zu technisch. Macht es Sinn sich auf das gesprochene Wort zurückzubeziehen? Wie wäre es wenn die Melder*innen, nicht nur Infos an den Ticker weitergeben, sondern auch an die Gruppen auf der Straße? Gab es nicht auch ein grundsätzliches Problem mit Berlin-Mitte? Wer kennt sich denn da aus? Hätten hier aufklärende Spaziergänge im Vorfeld weitergeholfen? Ist es nicht besser sich schon Tage vorher mit einem Szenario und möglichen Aktionsformen vertraut zu machen, als spontan den Durchbruch zu wagen? Und wo fließen solche Überlegungen zusammen? Brauchen wir vor solchen Tagen nicht Orte zum Zusammenkommen, die über Infoveranstaltungen hinausgehen (Stichwort: Stadt-Camps wie bei Gipfeln). All das wurde im Vorfeld des 27. Mai nicht beachtet. Die Prioritäten lagen auf anderen Dingen.

Festhalten wollen wir eine Checkliste für Bezugsgruppen:

1. Bezugsgruppe bilden
Mit wem seid ihr unterwegs? Was wollt ihr gemeinsam machen? Welche Erwartungen gibt es für den Tag? Wieviel Verantwortung übernehmt ihr füreinander?

2.  Was geht an dem Tag?
Wie wird der Tag ablaufen? Welche Veranstaltungen finden statt? Was ist wo zu erwarten? Welche Strategie wird die Polizei haben? Wie kann diese unterlaufen werden? Was machen andere Bezugsgruppen? Wie könnt ihr einen Beitrag leisten?

3. Im Vorfeld aktiv werden
Was kann schon vor dem Aufmarsch gemacht werden? Wie kann die Mobilisierung und Struktur der Rechten geschwächt werden? Wie kann die antifaschistische Mobilisierung und Infrastruktur für den Tag gestärkt werden?

4. Gelände-Erkundung im Vorfeld
Wo findet das ganze statt? Kennt ihr euch da aus oder den Ort zumindest von der Karte? Worauf ist zu achten? Welche Szenarien gibt es?

5. Aktionswissen
Welches KnowHow braucht mensch an dem Tag? Macht es Sinn bei einem Aktionstraining teilzunehmen?

6. Ausrüstung
Was braucht ihr an dem Tag? Schutz, Akustik, Visuelles?

7. Informationen akut
Wie bekommt ihr bei der Aktion Informationen und wie gebt ihr Informationen an andere weiter? Braucht ihr eigene Wegweiser, Smartphones, Megaphone und ausgedruckte Karten?

8. Kommunikation akut
Wie setzt ihr euch mit anderen Bezugsgruppen am Tag in Verbindung, um gemeinsam aktiv zu werden? Habt ihr Delegierte und eine Entscheidungsstruktur, die euch ermöglicht auch in großen Gruppen schnell basisdemokratische Entscheidungen zu treffen? Wie findet ihr euch an dem Tag wieder?

9. Repressions-Vorbereitung
Seid ihr auf polizeiliche Übergriffe vorher (bei der Mobi/Planung), am Tag selbst (Polizeigewalt, Festnahme) oder danach (Hausdurchsuchungen, Anzeigen) vorbereitet? Sprecht die einzelnen Probleme durch und versucht einen pragmatischen Umgang zu finden. Ziel sollte sein sich nicht von Aktionen abzuhalten und gleichzeitig nicht so angreifbar zu sein.

10. Nachbereitung ist Vorbereitung
Alles noch dran? Gibt es Repressionsfälle oder andere Beschädigungen, um die ihr euch kümmern solltet? Wie hat eure Bezugsgruppe funktioniert? Was hat an dem Tag gefehlt? Behaltet eure Erkenntnisse nicht für euch. Nach der Aktion ist immer vor der nächsten Aktion.

Konkrete Probleme der Fingertaktik am 27. Mai & Strategie

An den beiden mobilisierten Orten, Hallesches Tor und Gesundbrunnen, trafen sich am 27. Mai soviele Menschen, dass es unmöglich war mit ihnen schnell zu agieren. Hier wurde eine ausreichende Kommunikation versäumt - so hätten die Fingerstrukturen an alle kommunizieren müssen, was ansteht, wann es losgeht und was erwartet wird. Das ist nicht allein Aufgabe der Gruppen, die zu sowas einladen. Vielmehr hätten die Teilnehmenden auch selbst durch Kommunikationskonzepte wie human mic, Deligierten-Strukturen u.ä. die Kommunikationslöcher füllen können. Als sich alles in Bewegung setzte und Leute aufgrund der Größe der Züge auf der Strecke blieben (am Halleschen Tor betraf das einige hundert Personen, die nicht in die U-Bahn passten), wußte dann niemand wohin es gehen sollte. Schade, dass auch keine Bezugsgruppe auf die Idee kam sich den Hut an dieser Stelle aufzusetzen. Hier fehlte es offensichtlich nicht nur an Absprachen, sondern auch am Verständnis dass so ein Tag nicht ohne Eigenverantwortung über die Bühne geht. Es wäre wohl praktischer gewesen entweder mehrere Ersatz-Fingerspitzen zu haben, die dann zurückbleiben oder z.B. ganz hinten laufen (auch praktisch bei plötzlicher 180 Grad Wendung) oder zumindest dieses Szenario bei Aktionstrainings vorzudiskutieren. Die Mobilisierung war ein großer Erfolg. Allerdings wurden die Gruppen durch ihre Größe zu statisch. Vielleicht hätte eine Aufteilung geholfen, wieder mobiler zu werden.

Dem Finger vom Gesundbrunnen wurde die fehlende Ortskenntnis zum Verhängnis. Bis sich alle am Potsdamer Platz (südlich der AfD) orientiert hatten, waren schon genug Polizeikräfte vor Ort um diesen Zug in geordnete Bahnen zu lenken. Es wurde gekesselt und die Gruppe durfte sich später an der glänzenden Demo beteiligen.

Der andere, durch die begrenzte Anzahl an U-Bahn Wagons bereits deutlich dezimierte, Finger vom Halleschen Tor entfaltete am Naturkunde Museum (nördlich der AfD) plötzlich eine derartige Geschwindigkeit, dass wiederum eine große Anzahl von Leuten zurück blieb. Die Polizei stellte sich, noch weit weg von der AfD-Route in Ketten auf. Als diese durchflossen wurden fuhr die Polizei Gewaltexzesse auf, mit der Konsequenz das sechs Personen krankenhausreif waren und viele weitere diese Hürde nicht schafften. Die in Gang gesetzte schnelle, chaotisch bis panische Dynamik führte dazu, dass spätestens an der zweiten Polizeikette einige hundert Meter weiter jedes Bewusstsein für Kollektivität verloren ging. Alle rannten wies grad passte, sodass die Taktik des Auffächerns, mit dem Ziel die Polizeiketten aufzuziehen und somit den Nachzügler*innen zu ermöglichen auch durchzukommen, nicht mehr umgesetzt wurde. Der Rest zog es vor, nicht zum Futter polizeilicher Gewaltphantasien zu werden. Diejenigen die durchkamen wurden kurz vor der Route gekesselt, womit dann auch wieder die Überreste der Fingerstruktur aktiv wurden. Der Kessel wurde schnell wieder aufgelöst. Danach verteilten sich die Menschen über das Gelände entlang der AfD-Route nördlich der Spree, die Fingerstrukturen konnten nur noch bedingt ihre Rolle wahrnehmen. Insgesamt enstand der Eindruck, dass die Dynamik der Finger an vielen Stellen eher von der Masse als der Fingerstruktur geleitet war. Eine Art Wechselwirkung zwischen einer Struktur die einige grobe Fehler beging und einer Masse die sich nicht auf die Struktur fokussiert, sondern sich selbst einfach treiben ließ, zumeist unüberlegt. Dass über die Ticker keine relevanten Informationen kamen und die Handynetze ständig abbrachen, verhinderte zudem die Individual-Kommunikation - auf die sich sonst alle verlassen.

Neben der Möglichkeit, Fingerstrukturen und Telnehmer*innen besser auf die Finger-Aktionsform vorzubereiten, ist auch der kritische Blick auf die Strategie als solche notwendig. Der Vorteil, dass öffentlich angeworbene Finger mobilisierend wirken, muss abgewogen werden dagegen, dass die Finger (zumindestens an diesem Tag), weit ab von der Route bereits krasser polzeilicher Gewalt ausgesetzt waren und somit der Motivation von 2000 Mensch zu blockieren, frühzeitig ein Dämpfer gesetzt wurde. Im schlimmsten Fall wirken die Erfahrungen des Tages längerfristig demobiliserend. Fest steht, dass die Finger aus polizei-taktischen Gründen immer die größte Aufmerksamkeit der Polizei bekommen werden, und das mit eingeplant werden muss.

Gleichzeitig schaffte es eine kleine Gruppe, die Gitter direkt an der Route zu öffnen - ein Versuch der bereits am 17. Februar 2018 (AfD Frauenmarsch) daran scheiterte, dass nach dem Öffnen niemand bereit war, die Polizei als letzes Hinderniss unmittelbar vor der Route, überwinden zu wollen (wohl in dem Wissen über die anstehenden Prügel). Bessere Beispiele aus Berlins jüngster Vergangenheit sind da die Blockade des Aufmarschs der Identitären im Juni 2017 sowie des Rudolf-Heß-Marsches im August 2017. In beiden Fällen waren es kleinere Gruppen, mit dem entscheidenen Wissen über Nadelöhre (Hinterhöfe etc.), die auf die Route tröpfelten und somit als erstes blockierten. Diese Erkenntnisse und Erfahrungen zusammen zu bringen, könnte der Schlüssel sein, um mit genügend Selbstbewußtsein für Blockaden zu mobilisieren, und dies dann auch erfolgreich zu tun.

Tipps für Fingertaktik

1. Kommunikation und Entscheidungsfindung im Finger verbessern

2. Mitmachkultur in Fingern stärken und einfordern

3. Aktionstrainigs, Aktionstrainings, Aktionstrainings

4. Offene Formate zur Planspiel-Diskussion im Vorfeld

5. Plan B: Zusammspiel mit kleineren Bezugsgruppen die unauffällig auf die Route kommen

6. Kollektive Kommunikation, auch wenn der Finger gebrochen wurde

Massenmobilisierungen: Potentiale und Zusammenarbeit

Die Zahl der Teilnehmenden am Gegenprotest mit 25.000 (Zahl der Polizei) bzw. 75.000 (Zahl von Aufstehen gegen Rassismus) sind gigantisch. Diese Zahlen machten es der AfD schwer sich als die wahren Volksvertreter*innen zu inszenieren. Gleichzeitig haben solche Zahlen auch einen versöhnenden Effekt auf alle die das Debakel des AfD-Großaufmarschs von 2015 noch in den Knochen haben. Damals waren gerade mal 800 Leute beim Gegenprotest, während 5000 AfD-Anhänger*innen Unter den Linden marschierten. Neben diesen beiden wichtigen Effekten ist dennoch die Frage zu stellen welche Chancen eines so großen Zuspruchs vielleicht vertan wurden. Denn spätestens nach dem Aufruf von AfD-Wegbassen konnte ziemlich genau (z.B. über die Facebook-Zusagen) orakelt werden, dass weit mehr als 10.000 Menschen zu den Veranstaltungen kommen werden. Wie hätten die Clubs besser in die Bündnisarbeit bei „Stoppt den Hass“ mit einbezogen werden können? Wie hätten die Ressourcen der unterschiedlichen Akteure besser genutzt werden können? Wie hätte die neu erschlossene Mobilisierungsstärke auch zu Verhinderung/Blockaden beitragen können? Oder konkreter: Was wäre denn passiert, wenn sich tatsächlich 200 gut gelaunte Raver*innen entschlossen in den Tiergarten verabschiedet hätten um die Polizeibarrikaden zu stürmen? Wäre es nicht ein Leichtes gewesen mit einem mobilen Soundsystem als Finger aus dem Rave zu starten?

Denn Fakt ist, dass hier Räume für den Kampf gegen die AfD geöffnet wurden, die bisher als unpolitisch galten, oder deren politische Wirkmächtigkeit sich zumindest nicht auf der Straße zeigte. Geschafft wurde dies durch die Vergegenwärtigung und öffentliche Propagierung von bereits vorhandenen Narrativen und Lebensentwürfen mit denen sich viele Partygänger*innen der „schweigenden Mehrheit“ identifizieren können und gegen die die AfD eintritt. Die Anknüpfung an die eigene Lebensrealität, die z.B. kosmopolitisch, inklusiv und vielfältig ist, und dessen kulturellen Gegenentwurf des nationalistisch-autoritären Rückwärtstrends der AfD, hat offensichtlich bewirkt, dass viele bisher wenig Aktive meinten sich auf der Straße beteiligen zu müssen. Hier ging es jetzt plötzlich um was. Aus dem ziemlich deutlichen „AfD=Nazis“ ist aber nicht automatisch ein „Wir=Antifa“ herauszulesen. Wäre es nicht an der Zeit an dem Erfolg des 27. Mai anzuknüpfen und die Politisierung in der Breite voranzutreiben?

Neben diesen inhaltlichen Überlegungen, gab es, wie auch schon weiter oben, grundsätzliche Praxisprobleme was die Aktionsformen angeht. Es wurde vorher nicht kommuniziert was auf dem Rave passieren soll, weshalb letztlich auch nicht viel passiert ist. Vor Ort fehlten auch Angebote, die über das Raven hinausgingen.

Worauf wir in Zukunft achten wollen:

- Clubs sind keine unpolitischen Orte. Es gibt keinen Grund politische Inhalte aus ihnen rauszuhalten. Der Stil der Ansprache sollte sich aber an den Adressat*innen orientieren.

- Aktionsformen, die nicht in Seh-, Ruf- oder Hörweite der politischen Gegener*innen stattfinden, sind keine Interventionen, sondern verharren auf der symbolischen Ebene.

Ausbaufähig: Aktionsbild und Ausdruck

Wie demonstriert mensch gegen die AfD? Welches Bild vermitteln wir mit welcher Aktionsform in der Öffentlichkeit? Wie können Inhalte transportiert werden ohne den Aufruf vorlesen zu müssen? Wie vermeiden wir die Instrumentalisierung oder Vereinnahmung unserer Proteste gegen die AfD durch die hiesige Regierungskoalition?

Wir können die Medienberichterstattung beeinflussen, indem wir eigene Medien als Sprachrohr nutzen. Für diese, aber auch für alle anderen, muss bestimmter Content (visuell, akustisch, inhaltlich) produziert werden. Dazu zählen Aktions-Bilder, die bewegen. Doku-Teams, die trotz der Antirepressions-Ansage „no camera, no problem“ auf Aktionen geduldet werden, weil sie repressionsbewusst mit den Bildern umgehen.

Aber müssen Blockaden überhaupt Bilder produzieren? Geben wir nicht zuviel Preis, wenn beispielsweise dann doch mal gezeigt wird, dass „Provokationen“ sehr wohl von uns ausgehen, um auf die Route zu gelangen? Besteht nicht das Risiko eines Legitimationsverlust in der Öffentlichkeit, wenn bestimmte Aktionsformen gezeigt werden? Gleichzeitig ist die Blockade an solchen Tagen weiterhin ein gutes Mittel um Widerstand (andere daran hindern etwas zu tun) zu zeigen, um nicht nur Protest (Unmut äußern) zu symbolisieren. Die Blockade vermittelt: Für die Inhalte der AfD gilt keine Meinungsfreiheit. Diese Aktionsform ist nicht uminterpretierbar, aber evnetuell versäumen wir regelmßig, sie inhaltlich gut genug zu legitimieren. Denn wenn am Ende rauskommt, dass Blockaden die hiesige (repressive und ausschließende) Demokratie gegenüber ihren Feinden verteidigen, ist was falsch gelaufen.

Die einzelnen Veranstaltungen könnten auch unterschiedliche Themenschwerpunkte klarmachen, um in der Öffentlichkeit die Vielfältigkeit des Protests klarzumachen. So wenig wie die AfD eine Ein-Punkt-Partei ist, so wenig ist auch der Protest dagegen homogen. Diesem Umstand kann durch Themen-Finger (wie bei den Protesten gegen AfD Bundesparteitag in Hannover 2017), Raves oder oder Rechnung getragen werden. Hierzu muss aber das Bild stimmen, was höhere Anforderungen an Kleidung usw. stellt.

Der Rave wurde als weniger politisch wahrgenommen. Warum? Es fehlte an Text von den Wägen. Es fehlte an vielem was den Rave gestört hätte. Gibt es denn Varianten eines politischen Raves? Was wäre passiert wenn Sprühkreide oder ähnliches verteilt worden wäre? Oder Sprechblasen zum selber ausfüllen? Was wenn der Rave, oder viele viele kleine, den Bezirk lahmgelegt hätte?

Realistische Folgen von Aktivismus: Staatliche Repression

Diesmal wurden an dem Tag nur 25 Personen von der Polizei wegen unterschiedlicher Delikte festgenommen. Die Anzahl mag diesmal gering erscheinen, aber das hilft den Betroffenen wenig. Im Vorfeld von Aktionen, die den kollektiven Regelübertritt implizieren und von den Mobilisierten faktisch erwarten, sollte vermittelt werden, dass es eine realistische Chance gibt dafür Ärger mit der Staatsmacht zu kriegen. Um hier nicht Panik und Lähmung zu erzeugen, ist es wichtig konreter zu werden und von Erfahrungen zu berichten, Polizeitaktiken zu diskutieren und die einzelnen Elemente von Repression durchzusprechen (Verfahren/ Durchsuchungen/ Prozesse/ Polizeigewalt). Hier hilft gutes Infomaterial von der Roten Hilfe weiter. Der wichtigste Punkt ist sicherlich auf die Entkriminalisierung von bestimmten Aktionsformen (z.B. von Blockaden durch Jurist*innen in Dresden) hinzuarbeiten. Entscheidend (auch für den Prozess) ist nicht ob etwas legal ist, sondern wie legitim es ist. Deshalb lohnen sich politisch geführte Prozesse und begleitende Kampagnen für alle aktuell und zukünftig Betroffenen. Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte, Jugendgerichtshilfe usw. agieren nicht im luftleeren Raum. Auch sie sind Adressat*innen der Medienberichterstattung und politischen Einflussnahme.

Dass der Ärger sich bei guter Verteidigung, politischer Prozessführung und kollektiver Bearbeitung der Beschädigungen in Grenzen hält, ist ein wichtiger Faktor für viele die überlegen ob es das wert ist. Gleichzeitig sollte dieses Versprechen aber auch gehalten werden. Also wird, was den 27. Mai angeht, wohl Prozessbegeleitung, Solipartys und ähnliches anstehen. Notwendig dafür ist der Kontakt mit Betroffenen (z.B. über den Ermittlungsausschuss oder die Rote Hilfe).

1x1 der Anti-Repression

1. Vor Aktionen Angebote machen sich mit dem Thema vertraut zu machen

2. Nach Aktionen Angebote machen die entstandenen Probleme gemeinsam zu lösen

3. Niemanden allein lassen, egal wie stabil sich die Personen manchmal darstellen

4. Repression hat viele Gesichter. Das Strafverfahren ist nur eines.

Erstveröffentlichung auf Indymedia am 17. Juli 2018

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