Marzahn, Buch, Köpenick – Analyse und Strategien
Rassistische Mobilisierung hat eine in Berlin lange nicht gekannte Stärke erreicht – und steht einer hilflosen und überforderten Zivilgesellschaft gegenüber. Wir wollen strategische Schwächen und Stärken als Debattenbeitrag einbringen, die auf Macht von Aktion, Militanz und Sprache eingeht, die Mobilisierung betrachtet und Antifastrukturen analysiert. Um letzten Endes die wichtige Frage zu stellen: können wir Geflüchtete in Marzahn leben lassen? Ein Pamphlet in 3250 Wörtern.
In den letzten Wochen standen wir einer massiven Mobilisierung von Rassist_innen und Neonazis gegenüber. Auslöser sind die Vorhaben des Sozialsenators Mario Czaja (CDU), den steigenden Zahlen von Geflüchteten, die aufgrund der geopolitischen Lage insbesondere im „Nahen Osten“ und in Süd- / Osteuropa, mit Container- und Traglufthallenunterbringung zu begegnen. Zuständig für die planerische Koordination ist Franz Allert, der skandalgeschüttelte Präsident des Landesamtes für Gesundheit und Soziales. Ihm werden unlautere Vergabepraxen nachgesagt: das „privat“ in private Betreiber_innen-Firmen bedeutet für Allert anscheinend nicht privatrechtliche Organisationsform, sondern private Beziehungen, so zum Patensohn, der Geschäftsführer der Gierso-Unternehmungsgruppe ist, ein mafiöses System aus verschieden Firmen, unter Beteiligung des schon im Bauskandal der 90er in Berlin beteiligten Helmut Penz – der Eigentümer der „PeWoBe“, ein weiteres Skandalunternehmen, das Flüchtlingsunterkünfte betreibt. Hinzu kommt der lobenswerte Abbau der Massenunterkünfte in den Legislaturperioden von Rot-Rot, die aber schon deswegen ins Leere ging, weil keine entsprechende Wohnungspolitik mit dieser Entwicklung korresponierte. Zudem ist der Linkspartei vorzuwerfen, das System aus privaten Betreiber_innen-Firmen überhaupt erst installiert zu haben. Wenn sie sich an unsere Seite im Kampf um Rechte für Geflüchtete und deren Unterbringung stellt, sollte sie dringend ihre eigenen Verfehlungen in ihrer Regierungszeit aufarbeiten.
Zusammengefasst stehen wir also vor einer strukturell fehlgeleiteten Politik der Unterbringung von Geflüchteten, die unter dem Management eines krisengebeutelten LaGeSo unter einem inkompetenten Sozialsenator auf einen außergewöhnlichen gestiegenen Bedarf an Wohnraum für Geflüchtete reagieren muss. What could possibly go wrong?
Im Folgenden wollen wir auf einige strategische Punkte und Analyseperspektiven eingehen:
- Ausdifferenzierung der Rassist_innen
- Begriffsnutzung im Diskurs
- Mobilisierungskritik
- Antifastrukturen und Militanz
- Pressearbeit und Presseschutz
- Ehrliches Zugeständnis: Geflüchtete in Marzahn?
Zur Übersicht die weiteren Debattenbeiträge:
- Rassistische Mobilisierungen in Berlin, 20. November
- Strategiediskussion/ -Vorschläge: antifaschistischer Protest in Marzahn/Buch/Köpenick, 26. November
- Zu den Aufmärschen von Rassist*innen in Marzahn/Buch/Köpenick - ein weitere Diskussionsbeitrag, 28. November
Rassistische Mobilisierung und Ausdifferenzierung
An drei der insgesamt elf geplanten Standorte wird dagegen von Rassist_innen mobilisiert: Buch, Marzahn und Köpenick. Drei Teilbezirke im Berliner Osten, allerdings gibt es noch weitere Ostbezirke, an denen der Protest gegen die Unterkunft sehr verhalten ausfällt, so in Lichtenberg-Hohenschönhausen. Um der rassistischen Mobilisierung zielgerichtet zu begegnen, muss man sich die Frage stellen: was eint diese Standorte, was unterscheidet sie – und wo liegt die Differenzierung zu den restlichen Standorten?
Marzahn hat im näheren Einzugsbereich sowohl kleinbürgerliche Eigenheime als auch Plattenbau, ähnlich die Situation im Allendeviertel. In Buch überwiegen die Eigenheime, dazu kommen einige ältere Wohnblöcke und wenige Platten. Die Schuld im sozialen Stigma der „Platte“ zu suchen, ist also gefährlich und in ihrer Pauschalität schlichtweg falsch. Gleichwohl: die massivste Mobilisierung findet man in den Marzahner Platten vor, aus denen viele der „Montagsdemonstranten“ in die Demo fließen, während diese am Laufen ist. Im gesamten Text werden wir uns weitestgehend auf den Marzahner Fall beziehen.
In den vorangegangenen Texten wird überlegt, Anwohner_innen und Nazis auseinanderzudividieren. Es bleibt aber zu bemerken, dass entscheidende Akteure der organisierten Naziszene vor Ort wohnen, wie wir spätestens seit dem verlorenen Notizbuch des Staatsschutz(?)beamten wissen: in Marzahn wohnen in Laufreichweite der Unterkunft die militanten und gewaltbereiten Neonazis René Uttke und Patrick Krüger. In Buch wohnen neben einem bewaffneten Nazi, der den militanten Kampf fordert, auch NS-Fanatiker Christian Schmidt (Kreisvorsitzender der NPD Pankow). In Köpenick wirken immer noch die Strukturen der „Braunen Straße“ in Schöneweide, auch wenn sie ihre infrastrukturellen Fixpunkte verloren haben. Die Differenzierung zwischen ansässigen Anwohner_innen und angeblich zugereisten Neonazis ist also weitestgehend müßig, Nazis sind eben nicht nur Nazis, sondern auch Anwohner und haben eine lokale, soziale Verwurzelung; daraus können sie nicht nur mobilisieren, sondern auch erlangen auch Glaubwürdigkeit über das Einer-Von-Uns-Denkschema. Es verbleiben also zwei Ansätze zur Ausdifferenzierung:
Erstens nach sozialen Schichten: der Keil wird zwischen die vermeintlichen Schmuddelkinder der Platte und die kleinbürgerlichen Eigenheimbesitzer_innen getrieben. Vorteilhaft daran ist vor allem, dass sich das Aktionsspektrum der Rassist_innen verkleinert: das kleinbürgerliche Klientel neigt vor allem zu verwaltungsrechtlichen und zivilrechtlichen Klagen, um die Unterkunftsbauten zu verhindern, nutzt die rechtsstaatlichen Blockademöglichkeiten und hat das nötige Kaffeekassengeld, um mit Anzeigendruck, anwaltlicher Beratung und ähnlichen kostenintensiven Aktionsformen einen enormen politischen Druck zu erzeugen. Der auch in der Politik ankommt, weil viele der verantwortlichen Bezirks- und Landespolitiker_innen einerseits mit diesen Menschen aufgrund des vergleichbaren sozialen Status auf einer Augenhöhe sprechen (und ihren „Argumenten“ deshalb zuhören) und andererseits in dieser sozialen Gruppe ihr Hauptwähler_innen-Klientel sehen, die häufiger zur Wahl gehen, demokratische Parteien wählen und im Allgemeinen das soziologische Fundament der vermeintlichen politischen Mitte darstellen. Auf diese Weise interveniert man, um ein Umkippen der politischen Gestalter_innen auf Bezirks- und Landesebene zu verhindern und die Konsenspolitik auf diesen politischen Ebenen zu unterstützen. Das mag einem moralisch zuwider sein, hat aber bedeutenden strategischen Einfluss. Sobald die ersten Politiker_innen der demokratischen Parteien den Chor von Grundstückswerten, angeblicher Verschmutzung und „Not-In-My-Backyard“ mitkrähen, wird die Situation deutlich komplizierter und anstrengender für Antirassist_innen und nimmt z.B. bündnispolitischen Spielraum.
Zweitens über den Faktor „Soziale Akzeptanz“: die Unterscheidung zwischen den Nazis und den restlichen Anwohner_innen verläuft oftmals über den Eindruck der Redlichkeit und Seriösität, den die diskursführenden Nazis vermitteln. Hier muss antifaschistische Recherche nachlegen und die Hintergründe der Akteure weiter aufarbeiten – Krüger, Schmidt und Uttke haben alle Haftaufenthalte hinter sich. Die Kunst besteht darin, das als Differenzierungsmerkmal zu nutzen, um den doch recht einfältigen Argumentationsmustern der Rassist_innen zu begegnen: vorausgesetzt der Glaubhaftigkeit der Notizen des Zivilpolizisten steht als ein Tötungsdelikt von Patrick Krüger gegenüber der angeblichen Gewalt an Deutschen durch „Ausländer“ und ein Kinderpornografieverdacht bei Marcel Rockel steht der Sorge um die Kinder und der Sorge um Vergewaltigungsvorfälle sehr entgegen. Einige Flugblätter – nicht nur Internetveröffentlichungen – helfen den Marzahner Haushalten da sicher weiter, ihre Position neu zu definieren.
Wording
Wie in so vielen Diskursen gibt es wieder eine ausgeprägte Begriffsunschärfe. Nicht nur in den Medien, sondern auch in den linken Debatten findet man immer wieder eine Wortwahl, bei der man mit dem Kopf schütteln muss. Darum einige Beispiele, mit denen in Zukunft entsprechend umgegangen werden sollte:
Containerdorf, das: ein Euphemismus für eine Unterbringungsform, die per se menschenunwürdig ist. Container, das sind Lager- und Frachttransportobjekte. Ihre gesellschaftliche Funktionszuschreibung ist Objektgebunden, entsprechend werden die Menschen, die darin leben müssen, dehumanisiert oder auf ihre Funktion reduziert, das sieht man an Bauarbeiter_innen-Containern oder Schulcontainern. Sie werden nicht als Lebensräume wahrgenommen, sondern als Funktionsgebäude. Bauarbeiter_innen sollen aus den Containern heraus ihre Arbeit verrichten. Schüler_innen sollen in den Schulcontainern lernen. Asylbewerber_innen sollen im deutschen Asylsystem verarbeitet werden. Diese Dehumanisierung soll durch das Suffix „Dorf“ entgegengewirkt werden, der die Assoziation eines Lebensraums erzeugt. Hier stehen sich dann die visuelle Wahrnehmung als Funktionsgebäude und das Wording in einem Widerspruch gegenüber. Dorf soll aber auch eine beruhigende Wirkung haben: das Dorf fungiert im Sprachgebrauch als abgeschlossener Lebensraum, der die Ansprüche seiner Bewohner_innen weitestgehend aus sich heraus befriedigt. So soll der Eindruck erzeugt werden, dass Asylbewerber_innen nicht auf die sozialen Communities um sie herum einwirken, dort nicht zur Last fallen könnten und im Allgemeinen unter sich bleiben. Das geht synchron mit Vorschlägen zur Beschulung der schulpflichtigen Asylbewerber_innen in den Unterkünften selber, um die eh überfüllten Schulen nicht zu belasten (auch dafür vielen Dank, Rot-Rot!). Sugarcoating also, dieser Begriff, um das Dehumanisierende und die Untragbarkeit dieser Unterkunftsform zu übertünchen und die Rassismen der Anwohner_innen abzuschwächen.
Sorgen und Nöte, die: Immer wieder werden auf die berechtigten „Sorgen und Nöte“ der Anwohner_innen hingewiesen, z.B. vom hauptberuflichen Extremismustheoretiker Tom Schreiber (MdA der SPD) und seinem Buddy, Innensenator Frank Henkel (CDU). Die absurdeste Sorge hatten wohl Marzahn und das Allenedeviertel: dort sorgte man sich u.a. um genau diese Natur, in der die Nachbarn sonst regelmäßig Kühlschränke und Fernseher entsorgen, um Naturschutzgebiete in Größe einer Hosentasche. Gefällte Bäume sind nicht erst seit Stuttgart21 der Lieblingsprotestgegenstand der Deutschen, also wird das auch hier reproduziert. Davon, dass das Naturschutzgebiet in Marzahn gar nicht betroffen ist, will man lieber nichts hören. Die Sorgen um „steigende Kriminalität“ ist statistisch widerlegt und es gibt auch noch – so hört man – Ertrinkungsopfer im Umfeld der neugebauten Unterkünfte, die von steigender Kriminalität weggespült worden. Nicht zuletzt treibt aber auch die fehlende Bürgerbeteiligung die Fürsprecher der armen, drangsalierten Anwohner_innen an: wie diese aber aussehen soll, hat noch niemand ausformuliert. Es geht – so muss man konstatieren – nämlich nicht darum, dass die Empörten an einem vernünftigen Unterbringungskonzept mitarbeiten wollen, sondern einzig und allein um die Verhinderung der zuziehenden Asylbewerber_innen. Oder um es mit den Worten eines Rassisten aus Hellersdorf zu sagen: „Was können wir denn noch tun, um das Heim zu verhindern? Es bleibt ja nur noch anzünden.“ Es geht also nicht um Gestaltung, sondern um Blockade. Sorgen und Nöte also sind hier nicht nur irrational, sondern eigentlich nur Deckmantel für allgemeine Ablehnung (für die jede Argumentation – von humanistischen Bedenken bis Naturschutz – alles dankbar angenommen wird) von Asylsuchenden. Einsteigen darf man darauf auf keinen Fall.
Heimgegner und Heimbefürworter, die: immer wieder liest man von Protesten von Heimgegnern und Heimbefürwortern. Das ist insofern gefährlich, weil man die Proteste gegen Rassist_innen mit neuen Inhalten belegt, die so nicht unbedingt vertreten werden, weil man antirassistische Proteste als Unterstützung für die Unterbringungsform verfremdet. Auch die Titulierung der Hetzer_innen als „Heimgegner“ leitet in die Irre, was sie eigentlich sind: Rassist_innen. Den ihr Problem sind nicht die Container, ihr Problem sind die Menschen, die in ihnen leben werden müssen. Und das nennt man Rassismus und das sollte auch so benannt werden.
Diese Beispiele sollen aufzeigen, warum wir uns auch ganz praktisch mit der Textproduktion von Medien, Ämtern und anderen Akteur_innen auseinandersetzen müssen und kritisch in die Debatte einsteigen müssen. Die Debatte zu beeinflussen, heißt auch, die Wahrnehmung zu den Problematiken zu beeinflussen.
Liberale Heilsversprechen? - Mobilisierungskritik
In den vorangegangenen Debattenbeiträgen wird bemängelt, dass nur wenige Antifaschist_innen ihren Weg nach Marzahn oder andere Stadtteile außerhalb des S-Bahn-Rings finden. Nun ist die Erkenntnis nicht gerade neu, problematischer Weise wird aber immer wieder die individuelle Verantwortung der einzelnen (oder doch eher: der vereinzelten?) Antifaschist_innen herausgestellt und – so nehmen wir es zumindest wahr – an deren Pflichtgefühl zu einer übergeordneten antifaschistischen Bürgeraufgabe appelliert. Die Überbetonung der Individualität entspringt dabei eigentlich einer ganz anderen Denkrichtung, sie ist weitestgehend das Heilsversprechen des politischen Liberalismus. Anstatt also bürgerliche Konzepte der Eigenverantwortung zu bedienen, muss eine linksradikale Analyse in ihrem Kerngebiet ansetzen und den Zustand der sozialen Bewegung im Allgemeinen und im konkreten Fall analysieren.
Für uns besonders interessant scheint die Differenzierung zwischen der überregionalen Samstagsdemonstration am 22. November 2014 und den sie umgebenden Montagsdemonstrationen in Marzahn. Während sich am 22. mehrere tausend Menschen zu Blockaden, Kundgebungen und Aktionen einfanden, viele Nazis und Rassist_innen nach verletzt nach Hause mussten und z.T. gar nicht erst an der Demonstration teilnahmen und die vorgesehene Route komplett blockiert wurde, sieht es auf den Montagsdemonstrationen spiegelbildlich aus: Antifaschist_innen kommen keinen Meter weit, kommen nicht an die Demonstrationen ran, werden von Polizei und Schlägergruppen durch den Kiez gejagt. Die Teilnehmer_innen-Zahlen liegen im unteren dreistelligen Bereich, während auf den durch die Nazis organisierten Demonstrationen z.T. über 1000 Menschen teilnehmen.
Für uns sind mehrere Mobilisierungsfaktoren entscheidend gewesen für den Erfolg des 22. November. Erstens gab es das Versprechen, mit einer Struktur für steten Informationsfluss und für die zielgerichtete Bewegung in großen Gruppen zu sorgen. Das gab das Gefühl der Verbindlichkeit. Zweitens gab es neben Plakaten auch Pyroaktionen und andere aufmerksamkeitserweckende Werbung. Neben der versprochenen Action (Stichwort: Eventcharakter) zeigte das ganz wichtig, dass es vor Ort Menschen gibt, die sich engagieren. Das Gefühl der Vereinzelung und gegenüber den Rassist_innen in der Minderheit zu sein, schwand damit. Auch bringen Printplakate die Ernsthaftigkeit der Sache zum Ausdruck, im Vergleich zur reinen Onlinewerbung, die einen oftmals beschallt. Hier also das Gefühl der (richtigen, guten) Positionierung und der Ernsthaftigkeit. Nicht zuletzt sorgte auch die öffentliche Aufmerksamkeit für die Vermutung, dass die Polizei vor Ort ist und im Notfall ansprechbar sei. Das Gefühl der Sicherheit, bedingt durch Polizeipräsenz und Tageslicht, nahm also Angst vor dem weitestgehend unbekannten Marzahn Terrain. Konstatierte Erfolgsfaktoren also: Verbindlichkeit, Ernsthaftigkeit, Positionierung und Sicherheit. Die Kriterien sollten als Analysematrix für weitere Mobilisierung gelten.
Im Gegenzug dazu die verunsicherenden Berichte der Montagsdemonstrationen: wenig Polizeikräfte, die nur linke Aktivist_innen kriminalisieren, verstärken das Unsicherheitsgefühl, das durch Jagdszenen auf Aktivist_innen und Journalist_innen hervorgerufen wurde. Hier muss Ersatz her, z.B. durch ein Notfall- und Infotelefon und dahinterstehenden Strukturen, die mobile und eingriffsbereit sind. Die gemeinsame An- und (!) Abreise muss zum Standard werden, genauso wie verbindliche und professionelle Informationsstrukturen (auch hier: Infotelefon und Ticker). Es muss auf kleine Gruppen und Einzelpersonen geachtet werden, sie müssen aktiv zum Anschluss an größere Reisegruppen gebracht werden. Die Ernsthaftigkeit sollte über Printveröffentlichungen nachgewiesen werden, zivilgesellschaftliche Bündnisse sollten gegründet oder wiederbelebt werden, um eine größere Reichweite anzusprechen. Die Positionierung muss dauerhaft und im großen, wahrnehmbaren Maßstab erfolgen. Transparente an Stellen, an denen sie keiner abbekommt. Gardinenstangenflyer in der S-Bahn. Werbung in den dafür vorgesehenen Tafeln der U-Bahnen. An den Schulen müssen dazu Diskussionsabende stattfinden, dafür sollte man die GEW ansprechen. Das sind nur wenige unserer Gedankenblitze, der Raum für Eigeninitiative ist gesetzt.
Positionierung ist einer der wichtigsten Faktoren. Sich in der schwarzen Nacht den Nazis entgegenstellen reicht dabei nicht. Positionierung können auch nicht nette, harmlose Resolutionen im Abgeordnetenhaus oder in den BVVen sein, zumal nicht gegenüber einer Klientel, dessen Lebensrealität demokratische und parlamentarische Institutionen kaum umfasst. Eine antirassistische und antifaschistische Positionierung muss immer erfolgen, muss auf Schritt und Tritt die Anwohner_innen durch ihr alltägliches Leben begleiten. Kreative Beispiele dafür wurden in den vorherigen Debattenbeiträgen schon genannt.
Antifastrukturen und die Militanzfrage
Für uns stellt sich der Abbau der Strukturen von ALB, Avanti und Weiteren als großes strukturelles Problem dar. Auch andere Gruppe feierten ihre 10 – 15 – 20 Jahrfeiern in den letzten Jahren, leisten aber kaum praktische (oder auch nur theoretische) antifaschistische Arbeit – man kann von Glück sagen, dass die rassistische Mobilisierung gegen das Containerlager in Hohenschönhausen nicht stattfindet. Die Bündnisversuche in Berlin bieten – im Gegensatz zu z.B. Dresden Nazifrei – nur unzureichenden Ersatz und die lokalen Gruppen können aufgrund ihrer personellen Stärke oft nur wenige der vielen notwenigen Aufgaben übernehmen. Einige Gruppen aus der Innenstadt kompensieren das mit ihrem organisatorischen Erfahrungsschatz – und dafür muss man auch mal „Danke!“ sagen! Trotzdem, durch die strukturelle Schwäche, der fehlenden Ansprechbarkeit, den Rückzug in die Konspirativität und das fehlende Interesse am Themenfeld Antifaschismus und Antirassismus (bedingt durch Frustration und dem z.T. fatalen „Mehr-als-Antifa“-Prozess, den Kampagnen wie Blockupy maßgeblich tragen) merkt man jetzt, wie sehr man gegenüber einer Naziszene, die auf einem Hoch ihrer außerparlamentarischen Aktivität ist, in Berlin ins Schwimmen gerät.
Um diesem Zustand zu begegnen, sollten sich in Berlin wieder dauerhafte, starke, überbezirkliche Bündnisse bilden. Die Arbeitsfähigkeit dieser Struktur sollte Prioriät haben und nicht die jahrelangen Konflikte neu aufgebrochen werden – was auch den Ausschluss von Strukturen bedeuten muss. Der Holger-Hansen-Freundeskreis aus ARAB, NaO und NEA muss – auch wenn sie vor Ort vielleicht verwurzelt sind – kategorisch eine Abfuhr erhalten, um sich nicht am Klein-Klein der Szenekonflikte aufzuhalten. Davon kann eine Berliner Struktur nur profitieren. Wir würden es begrüßen, wenn sich aus einem Arbeitsbündnis eventuell auch eine neue große Gruppe bilden würde, um der zunehmenden rassistischen Bedrohung durch Nazis und Anderen in Zukunft gestärkt begegnen zu können.
Wichtig erscheint uns auch die Positionierung zum militanten Antifaschismus. Wir begrüßen grundsätzlich die Versuche, Nazis auch körperlich auf die Pelle zu rücken. Gleichzeitig haben wir nach dem 22. November gesehen, dass ein unerwünschter Effekt eintrat: die Solidarisierung weiterer Bürger_innen mit den attackierten Nazis, Zulauf der Proteste, Ausnutzung der „Opferhaltung“ durch die neonazistischen Organisator_innen. Gleichzeitig wurden militante Aktionen der Bezugsgruppen durch Pressevertreter_innen dem gesamten Spektrum der antifaschistischen Aktionen zugerechnet und führte damit zu einer generellen Abwertung und einer Antipathie der Journalist_innen.
Militante Aktionen müssen kommunizierbar bleiben. Sie müssen eingerückt werden in den Kontext, sie sprechen in den seltensten Fällen für sich selbst. Militanz kann neonazistischen Aktivismus im wahrsten Sinne des Wortes brechen – aber nur, wenn sie auch neonazistische Aktivist_innen erreicht und nicht den rechten Fußballproll auf dem Weg zur Demo.
Hinzukommt, dass (Massen-)Militanz im Rahmen von sogenannten Strafexpeditionen wie so oft ohne Rücksicht auf lokale Antifaschist_innen durchgeführt werden, die von Racheaktionen der Nazis und polizeilicher Kriminalisierung betroffen sein könnten. Gerade in Marzahn haben viele lokale Genoss_innen große Probleme mit körperlichen Angriffen durch Nazis, die bewaffnet und ohne Rücksicht auf Verluste vorgehen.
Es gilt außerdem, ganz allgemein: Wut und Zorn sind keine Grundlage für antifaschistische Militanz. Ihr Credo muss Zielgerichtetheit, Vermittelbarkeit und Effektivität sein.
Pressearbeit und Presseschutz
Immer wiederkehrendes Thema der letzten Monate waren die zunehmende Gewaltbereitschaft von Nazis und Bürgermob gegenüber Pressevertreter_innen. Auch hier hat Marzahn-Hellersdorf eine unrühmliche Vorreiterrolle. Auf einer NPD-Kundgebung in Hellersdorf wurde 2013 auf eine am Boden liegende Reporterin eingetreten. Auf den „Montagsdemonstrationen“ werden Pressevertreter_innen bespuckt, geschlagen, bedroht und durch die Straßen getrieben. Sich hier auf die Aktivität von Polizist_innen zu verlassen, ist müßig. Vielmehr müssen Konzepte für den Schutz der Pressevertreter_innen gefunden werden und ihnen Hilfe in der Ausübung ihrer Funktion angeboten werden. Ein gutes Presseteam stellt so eine eigenen Hotline für Vorfälle zur Verfügung, sichert die Betreuung durch Erste-Hilfe-Verantwortliche ab, stellt Pressemappen mit Übersichten über besonders gefährliche Gruppen, Symboliken und Einzelpersonen zusammen und reagiert flexibel auf die verunsicherte Pressevertreter_innen. Das Angebot einer geschützten An- und Abreise gehört dazu.
Sicherheit ist aber nur ein Teil der Pressearbeit, die im Allgemeinen wieder intensiver und losgelöst von den eigenen Darstellungen laufen muss. Viel zu wenig werden Sprecher_innen antifaschistischer Gruppen in ihrer Expertise und ihrer politischen Einschätzung zu den rassistischen Mobilisierungen gehört und zitiert. Hier muss aktive Kontaktpflege verlaufen, bürgerliche Presse mit Informationen zu beliefern sollte kein ideologischer Tabubruch sein, insbesondere nicht in einer Situation, in der sich antifaschistische Sichtweisen und Proteste in der Defensive befinden.
Ehrlichkeit: Können Geflüchtete in Marzahn sicher leben?
Ein letzter Punkt, für all diejenigen, die es bis hier geschafft haben: wir stellen uns ernsthaft die Frage, wie es zu verantworten sei, Geflüchtete auf diese Weise in dem Umfeld von Marzahn unterzubringen. Köpenick und Buch sind speziell, aber die Situation dort ist mit Hilfe einer zivilgesellschaftlichen Kooperation unter Kontrolle zu halten. Marzahn ist anders.
Die Zwickmühle ist offen ersichtlich: Marzahn als Unterkunftsstandort in Frage zu stellen, bedeutet, den Nazis ihren Gewinn zu geben. Es wäre ein Präzedenzfall für alle „Nein-Zum-Heim“-Proteste, Rassist_innen überall in Deutschland würden jubeln und sich in ihrer lokalen Bestrebungen gestärkt zeigen. Eine Situation, die fatal für jeden antifaschistischen Protest wäre.
Wir sind aber auch Antirassist_innen. Wir wollen an diejenigen denken, die im Februar 2015 in diese Container einziehen müssen. Ihnen steht nicht nur eine passive Ablehnung eines normaldeutschen Kaltlands gegenüber. Ihnen stehen Menschen gegenüber, die zu tausenden den mordenden Mob bilden könnten. Ihnen stehen Menschen gegenüber, die den bewaffneten Kampf gegen „Überfremdung“ mit expliziten Bezug auf den NSU propagieren. Wir haben Angst. Wir haben schreckliche Angst, dass einer den Brandsatz, die Ceska, den Baseballschläger nimmt und einen Menschen, der Schutz vor den Gräueltaten dieser Welt hier sucht, totschlägt oder erschießt. Wir haben Angst.
Und deshalb muss offen diskutiert werden, ob die antirassistischen Strukturen in Berlin Schutz vor diesen Taten gewährleisten können oder ob nicht doch wir uns geschlossen gegen eine Einrichtung in Marzahn stellen sollten, um keinen Mord, keine Hetzjagd, keine Angst in Kauf zu nehmen. Eine der Lehren aus dem NSU muss auch für Antifaschist_innen sein, die Betroffenen rassistischer Gewalt in die eigenen Perspektive mit aufzunehmen und ihnen keine Statistenrolle zuzuweisen. Sie sind es, die unserer Solidarität bedürfen, sie sind es, für die wir gesellschaftliche Verantwortung mittragen. Die Schuld an dem Triumph der Nazis wäre nach unserer Einschätzung nicht primär einer antifaschistischen Bewegung zuzuschreiben, so sie dieser Argumentation folgt. Die Schuld liegt an dem widerlichen staatlichen Umgang mit Geflüchteten.
Oder anders gesagt: wir wollen keine Menschenleben für Czajas Containerlager aufs Spiel setzen.
Der praktische Ansatz könnte hier sein, durch Hausbesetzungen, durch große Kampagnen für Refugees als Mitbewohner_innen und Wohnraumbörsen - also auch die intensive Vernetzung in stadtteilpolitische und stadtentwicklungskritische Initiativen eine Alternative zum staatlichen Lageraufenthalt zu schaffen. Wohnungen statt Lager, das muss man sich nehmen statt danach zu fragen!
Für weitere Informationen zum Gruppenaufbau, zur Verteidigung von Unterkünften und zur Öffentlichkeitsarbeit empfehlen wir „Tipps und Tricks für Antifas“ sowie das deutlich aktuellere „Organisation und Praxis – ein politisches Handbuch“.
Erstveröffentlichung auf Indymedia am 1. Dezember 2014
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