Ein absolut unvollständiger Jahresrückblick auf Marzahn-Hellersdorf 2015
2015 haben Neonazis in Marzahn-Hellersdorf massiv gehetzt, Menschen bedroht und attackiert. Es fanden so viele extrem Rechte Aufmärsche und Straftaten wie in keinem anderen Bezirk Berlins statt. Antifaschist_innen haben sich dem braunen Treiben immer wieder in den Weg gestellt und Solidarität mit Geflüchteten gezeigt. Im Folgenden möchten wir euch einen absolut unvollständigen kleinen Jahresrückblick mit ausgewählten extrem Rechten Aktivitäten und antifaschistischer Gegenwehr präsentieren. Wir freuen uns über Ergänzungen eurerseits im Kommentarbereich. Eine umfangreiche Dokumentation neonazistischer Aktivitäten in Marzahn-Hellersdorf findet ihre beim antirassistischen Register der Alice-Salomon-Hochschule.
Januar
Nachdem im November 2014 Marzahner Neonazis die rassistischen sogenannten Montagsdemos begonnen haben, setzt sich diese Reihe auch im neuen Jahr fort. Unterbrochen von einer kurzen Pause über die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel, marschieren im Januar 2015 erneut hunderte „besorgte Bürger“ gegen eine geplante Geflüchtetenunterkunft durch Marzahn. Als bekannt wird, dass eine nichtgenutzte Sporthalle in Hellersdorf vorübergehend als Notunterkunft fungieren soll, versammeln sich spontan 50 Neonazis und marschieren um das Gebäude.
Auch die wöchentlichen Gegenkundgebungen an der Ecke Landsberger Allee/Blumberger Damm werden fortgesetzt. Sie werden von Gewerkschaften, Parteien, antifaschistischen Gruppen und Initiativen organisiert. Zur neunten sogenannten Montagsdemo am 19.01.2015 rufen antifaschistische Gruppen zu einer Demonstration, ausgehend vom S-Poelchaustraße zum Standort der geplanten Geflüchtetenunterkunft am Blumberger Damm, gegen Rassismus in Marzahn auf. Mehr als 300 Menschen beteiligten sich an diesem Zeichen der Solidarität mit Geflüchteten.
Anfang Januar 2015 wendet sich der Rektor der Alice-Salomon-Hochschule in einem offenen Brief an Innensenator Frank Henkel (CDU). Prof. Dr. Uwe Bettig schreibt: „Mit großer Sorge nehmen wir als Rektorat und ich als Rektor der ASH Berlin wahr, dass bei den Demonstrationen .jeden Montag im Bezirk die Demonstrant innen gegen die Aufmärsche von bekennenden Nazis und Hooligans zu wenig von der Polizei geschützt werden. Im Gegenteil berichten die Hochschulangehörigen, die an den Demonstrationen regelmäßig teilnehmen, sowie Augenzeugen unter unseren Kooperationspartnern im Bezirk von Übergriffen der Polizei gegenüber Demonstrant_innen, die sich im Sinne des Rechtsstaats engagieren. Wir bitten Sie, die Polizei anzuweisen, gewaltlos mit friedlichen Demonstrant innen, die sich eindeutig für die demokratischen Werte unserer Gesellschaft einsetzen, umzugehen.“
Februar
Nachdem sich im Dezember 2014 und Januar 2015 noch relativ viele Menschen an den rassistischen sogenannten Montagsdemos beteiligten, bricht die Unterstützung im Februar massiv ein. Nur noch maximal Einhundert Rassist_innen kommen zu den wöchentlichen Aufmärschen an die Kreuzung Landsberger Allee/Blumberger Damm. Anfang Februar kündigen die „Bürgerbewegung Marzahn“ und die „Bürgerbewegung Hellersdorf“ das vorläufige Ende der „Montagsdemos“ an. Auch ein Rückzug aus dem sozialen Netzwerk Facebook wird erklärt. Ein „Strategiewechsel“ soll folgen. Tatsächlich setzen die Neonazis um die Marzahner Rene Uttke und Patrick Krüger die montäglichen Aufzüge trotz schwindender Beteiligung wie gewohnt fort. An die Stelle der Facebook-Seite tritt eine Homepage, welche unter einem in der extrem Rechten Szene beliebten Webhoster läuft.
Parteien, Gewerkschaften und antifaschistische Gruppen setzen ihre wöchentlichen Gegenkundgebungen fort. Dies wird zum zentralen Anlaufpunkt für antifaschistische Proteste gegen die rassistischen „Montagsdemos“. Gegen die zumeist eisige Kälte verteilen die Parteien heißen Tee.
März
Solidarität! Damit antifaschistische Initiativen im Randbezirk auch das nötige Kleingeld für Plakate, Demos und Repressionskosten haben, starten Antifaschist_innen eine Soli-Shirt-Aktion. Anfang März erscheinen die in traditionell schwarz-rot oder modisch schwarz-blau erhältlichen T-Shirts mit dem Plattenbau-Antifa-Logo.
Anfang des Monats marschieren die „Montags-Demo“-Nazis durch das Wohngebiet der Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (DIE LINKE). Vor ihrem Wohnhaus halten sie eine Kundgebung ab und hetzen über das antifaschistische Engagement der Wahlkreisabgeordneten. Die Polizei gestattet dies. Einige Wochen später untersagt die Berliner Polizei derartige Aufzüge vor Paus privater Adresse.
April
Am 2. April stört eine Gruppe Neonazis um den Hauptorganisator der rassistischen „Montagsdemos“ Rene Uttke eine Informationsveranstaltung eines Marzahner Vereins. In seinen Vereinsräumen wollte starke Familie e.V. über die geplante Geflüchtetenunterkunft informieren, Neonazis waren ausdrücklich nicht eingeladen. Vor dem Laden in der Marzahner Promenade bedrohen Uttke und seine Anhänger_innen solidarische Bürger_innen, die Polizei muss die Veranstaltung schützen.
Unbekannte bedrohen im April sowohl die russisch-orthodoxe Kirche nähe Alt-Marzahn als auch die deutsch-russische Lomonossow-Grundschule. Die Kirche wird rassistisch beschmiert, an der Grundschule findet der Hausmeister am Morgen eine mit einem Strick aufgehangene Puppe.
Die 21. „Montagsdemo“ findet am 20. April, dem Geburtstag Adolf Hitlers, statt. Antifaschist_innen mobilisieren zu einer Demonstration gegen den brauen Aufmarsch, etwa 500 Menschen nehmen daran teil. Als die Nazis ein Geburtstagslied anstimmen wollen, schreitet die Polizei ein und verhindert dies.
Am 21. April, dem Jahrestag der Befreiung Marzahns, stören Neonazis eine Gedenkveranstaltung am ersten befreiten Haus in der Landsberger Allee 563. Trotz des sensiblen Ortes und der offensichtlichen Vorbereitung der Störaktion (die Nazis führen Fahnen, Transparente und Schilder mit sich) genehmigt die Polizei eine Spontanversammlung gegenüber der Gedenkstätte.
Am 1. Mai führt die neonazistische NPD Kundgebungen in Hohenschönhausen am Lindencenter und in Marzahn-Nord am S-Bahnhof Ahrensfelde durch. An beiden Orten demonstrieren Hunderte Antifaschist_innen gegen die Nazis und blockieren zeitweise den Beginn der extrem Rechten Versammlungen.
Anlässlich des Tages der Befreiung und des Sieges über Nazi-Deutschland veranstalten Antifaschist_innen aus Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf eine Fahrradtour zum deutsch-russischen Museum in Karlshorst. Ein Teil der Teilnehmer_innen startet in Friedrichshain, ein anderer am Gedenkort für die ermordeten Sinti und Roma in der Otto-Rosenberg-Straße in Marzahn. Beide Züge treffen sich an der Kreuzung Rhinstraße/Alt-Friedrichsfelde und fahren gemeinsam weiter.
Juni
Nachdem die Teilnehmer_innen-Zahlen bei den rassistischen „Montagsdemos“weiter massiv gesunken sind und nur noch ein harter neonazistischer Kern jeden Montag marschiert, führen die Nazis um Rene Uttke und Patrick Krüger nur noch Kundgebungen vor der im Bau befindlichen Geflüchtetenunterkunft am Blumberger Damm durch. Zum Teil verlegen sie diese Versammlungen auch zur Gedenkstätte am ersten befreiten Haus in der Landsberger Allee 563.
Juli
Im Juli finden grundsätzlich keine Nazi-Versammlungen mehr an der Kreuzung Landsberger Allee/Blumberger Damm statt. Antifaschist_innen hatten alle möglichen Kundgebungsorte im Umfeld der neuen Unterkunft mit Anmeldungen belegt. Die Nazis müssen nunmehr einige Hundert Meter entfernt hetzen. Die letzte sogenannte Montagsdemo, die 34., findet wenige Tage nach Eröffnung der Geflüchtetenunterkunft statt.
Am 10. Juli führt die noch nicht eröffnete Geflüchtetenunterkunft am Blumberger Damm einen Tag der offenen Tür durch. Mehrere Hundert Menschen nehmen daran teil. Mehrere antifaschistische Kundgebungen rund um das Gelände der Unterkunft sorgen dafür, dass der Platz nicht den Nazis überlassen wird.
Die NPD führt am Rande des Geschehens eine Kundgebung durch, an der sich nur wenige Menschen beteiligen.
Mitte Juli wird die Unterkunft am Blumberger Damm eröffnet. Es folgen fast täglich neonazistische Aktivitäten im Umfeld. „Spontane“ Ansammlungen von Nazis direkt vor dem Gelände, NPD-Kundgebungen im Umfeld bis hin zu gewalttätigen Übergriffen auf Geflüchtete prägen die ersten Tage und Wochen nach der Eröffnung. Davon will die bezirkliche Politik allerdings zunächst nur wenig wissen. Die Taz schreibt im Juli: "„Es geht da um einen kleinen Kern von Rechtsextremen, bei dem wir bedauerlicherweise wohl keine Verhaltensänderung errreichen können“, sagt Komoß. Von Angriffen auf Flüchtlinge habe er bisher aber nichts gehört."
August
In allen Marzahner Haushalten erscheint Anfang August eine antirassistische Zeitung. Mit der „MARZAHNAKTUELL“ werden Bürger_innen über die Ursachen von Flucht informiert und Möglichkeiten aufgezeigt, sich selbst für Geflüchtete zu engagieren. Das Zeitungsprojekt wird von antifaschistischen Gruppen initiiert.
Die Aktivitäten von Neonazis im Umfeld der neueröffneten Unterkunft am Blumberger Damm setzen sich im August unvermindert fort. In der Nacht vom 20. auf den 21. August werfen Neonazis aus dem Hooligan-Spektrum brennende Fackeln auf das Gelände. Bewohner_innen der Unterkunft können diese schnell löschen und größeren Schaden verhindern.
In Folge der massiven rassistischen Aktivitäten erhalten zwei Neonazis,unter anderem Rene Uttke, eine dreimonatige Aufenthaltsverbotsverfügung durch die Polizei. Sie dürfen sich dem Umfeld der Unterkunft nicht nähern, andernfalls wird eine Geldstrafe fällig.
Nach den bundesweit beachteten Ausschreitungen gegen eine Geflüchtetenunterkunft in Heidenau/Sachsen benennt die Initiative Hellersdorf hilft e.V. symbolisch die Heidenauer Straße in Hellersdorf um. Es werden die Namen von syrischen Geflüchteten angebracht.
In Hellersdorf findet Mitte August das traditionelle alternative„Randgestalten“-Festival statt. Hunderte solidarische Menschen feiern gemeinsam mit Geflüchteten aus Unterkünften in Marzahn-Hellersdorf ein buntes Fest.
September
In Marzahn werden Notunterkünfte eröffnet. Anfang September wird eine ehemalige Schule im Glambecker Ring zur Unterbringung von bis zu 400 Menschen hergerichtet. Bereits am ersten Abend attackieren Neonazis das Gebäude mit einem brennenden Bengalo. In unmittelbarer Nähe wohnt der Marzahner Neonazi Rene Uttke.
Es folgen im Laufe des Monats weitere Einrichtungen in der Bitterfelder Straße. Freiwillige Helfer_innen, unter ihnen viele Nachbar_innen, unterstützen die neu ankommenden Geflüchteten.
Die Neonazis um Rene Uttke führen nunmehr in unregelmäßigen Abständen sogenannte Mahnwachen, vorwiegend am Marzahner Einkaufszentrum EASTGATE, durch. Es beteiligen sich im Höchstfall 20 Nazis an den Hetzaufzügen.
Die rechtspopulistische Partei „Pro Deutschland“ mit Hauptsitz in Marzahn-Hellersdorf versucht die rassistische Mobilisierung gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte für sich zu nutzen und ruft erstmalig zu einer eigenen Demonstration auf. Etwa 60 Rassist_innen beteiligen sich an diesem Aufzug. Antifaschistische Gruppen und Parteien demonstrieren gegen die rechtspopulistische Hetze und setzen ein Zeichen für Solidarität mit Geflüchteten.
Das Bündnis „Berlin gegen Nazis“ veranstaltet Mitte Oktober eine Fahrradtour von Friedrichshain nach Marzahn-Hellersdorf. Antifaschistische Radler_innen wollen mit dieser Aktion Solidarität zeigen und gleichzeitig praktisch helfen. An der Unterkunft am Blumberger Damm werden gespendete Fahrräder an Geflüchtete übergeben.
November
Anfang November marschiert erstmals „Bärgida“ durch Marzahn. Während die NPD in Johannisthal demonstriert, laufen Hooligans, „Pro Deutschland“ und „Bärgida“ vom S-Bahnhof Springpfuhl zur Marzahner Promenade. Mehr als Hundert Antifaschist_innen demonstrieren gegen diesen braunen Aufmarsch. Das bezirkliche Bündnis für Demokratie und Toleranz setzt ein Zeichen gegen Rassismus vor dem Marzahner Rathaus.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November, den Jahrestagen der antisemitischen Pogrome von 1938, beschmieren Neonazis die Außenfassaden des Stadtteilzentrums Marzahn-Mitte und der nahegelegenen Galerie M. Beide Einrichtungen hatten sich wiederholt an die Seite von Geflüchteten gestellt und gegen Rassismus Position bezogen.
Am 21. November findet ein Novum in Marzahn-Hellersdorf statt. Die traditionelle antifaschistische Silvio-Meier-Demo findet erstmals im Randbezirk statt. Mehr als 2000 Menschen beteiligen sich daran. Die Route führt unter anderem auch an den Wohnhäusern bekannter Marzahner Neonazis vorbei. Von Nazis zuvor angekündigte Störaktionen finden nicht statt.
Ende November marschiert die NPD durch Hellersdorf. Analog zum Aufzug Anfang November in Johannisthal, will die neonazistische Partei im Umfeld einer Geflüchtetenunterkunft die Stimmung erneut anheizen. Der große Zulauf bleibt aus, die Teilnehmer_innen kommen fast ausschließlich aus dem organisierten Nazi-Spektrum.
Antifaschistische Gruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen rufen zu Gegenprotest auf. Mehr als 200 Menschen beteiligen sich daran, drei antifaschistische Gegenkundgebungen werden durchgeführt.
Dezember
Im Dezember werden weitere Notunterkünfte im Bezirk eröffnet, darunter zwei Sporthallen in Hellersdorf. Die bisher eher brachliegende „Bürgerbewegung Hellersdorf“ mit ihren führenden Köpfen Daniela Fröhlich, Marcel Rockel und Kai Schuster hetzen gegen diese Unterkünfte und ihre Bewohner_innen. In der Carola-Neher-Straße führen die Nazis eine Kundgebung direkt vor einer der Sporthallen durch, die Polizei genehmigt dies. Zu einer der anderen Hallen verschaffen sich einige Nazis um Daniela Fröhlich illegal Zutritt, fotografieren, bepöbeln und bedrohen freiwillige Helfer_innen.
Die wieder erwachte „Bürgerbewegung Hellersdorf“ nutzt einen Adventsmarkt der CDU in Mahlsdorf, um mit Senator Czaja „ins Gespräch“ zu kommen. Dieser kennt die seit Jahren im Bezirk aktiven Neonazis offenbar nicht und lässt sich sogar mit einer der Hauptprotagonist_innen fotografieren.
Erstveröffentlichung auf Indymedia am 31. Dezember 2015
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